Nichts geht mehr

Die Improvisation und der Komponist. Eine In-ein-ander-Setzung.

 

“Aber in gewisser weise trauere ich über etwas,
das damit zu tun hat, daß, sagen wir, Schubert mich verlassen hat,”

 Morton Feldman

 

Als Komponist, wie viele andere um seine materielle Existenz kämpfend, in einer Zeit zunehmender Kulturvernichtung auch noch über die Aufhebung eines Berufs zu plädieren, scheint absurd. Ich möchte dennoch versuchen, ein neues Bild zu skizzieren, welches das überkommene Selbstverständnis des Komponisten infragestellen möchte. Die Antinomie von Improvisation und Komponist hat ihre Geschichte, die nicht etwa durch die verschieden geschlechtlichen Artikel der beiden Antipoden zu erklären wäre. Wie zu zeigen sein wird liegt die Auseinandersetzung der vormals identischen Phänomene musikalischer Äußerung, in der Versteinerung dieses Berufs selbst begründet.

Die Petrifizierung des komponierenden Egos wird durch all die Institutionen, die unseren kleinen Überlebensraum noch ermöglichen, vorallem durch deren Erwartungshaltungen vorangetrieben. Diese wiederum sind Ergebnis der fatalen Übersättigung des heutigen Kulturlebens mit historischem Material. In keinem Jahrhundert mußte ein Komponist eine derartig übermächtigende Koexistenz mit den kulturellen Errungenschaften vorhergegangener Jahrhunderte eingehen. Die technische Reproduzierbarkeit, das Festhalten des Vergangenen zu jedem Augenblick, schlug längst auf des Komponisten Selbstverständnis über; und nicht selten nahm er mehr oder weniger bereitwillig die von ihm erwartete Persona an.

Was schleppt der so gefoppte Komponist mit sich herum, was ihn hindert, dem Jahrhundert in die Augen zu blicken. Es ist zunächst eine, in der Loslösung von der Berufssituation des komponierenden Handwerkers der Feudalzeit hin zum sich befreienden komponierenden Individualisten veränderte Selbsteinschätzung. Das Genie wurde in dem Augenblick geboren, in dem man aufhörte, einen Komponisten regelmäßig zu bezahlen. Zugleich machte sich das unterdrückte Ego Luft, die Motive des Komponierens verlagerten sich vom handwerklichen Anfertigen zum individuellen Schöpfen, das in die derzeitige Erschöpfung unseres Berufs mündete, der ja nur noch ein gefrorenes Abbild der damals neugefundenen Energie ist.

Diese Energie eines neuen Ich-Bewußtseins hatte auch die Zusammenhänge von Komposition und Improvisation aus den Verankerungen gehoben, in denen beide noch als etwas Nicht-Getrenntes funktionierten. Kein Komponist hätte die Kunst des Improvisierens als etwas Minderes oder von seinem Können Abgetrenntes gesehen. Dies bezeugen nicht zuletzt die vielen Traktate und Lehrbücher über die Diminuitionskunst. Zu nennen wären nur Einige wie: Paumann’s Fundamentbuch, Sivestro Galassi’s Lehrbuch des Diminuierens von 1535, weiterhin die Bücher von Jakob van Eyck bis Johann Joachim Quantz, schließlich Carl Philip Emmanuel Bach’s “Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen”.

Mit ausgehendem Barock individualisierte sich das Notenbild zunehmend. Die bezifferten Bässe wurden aufgegeben und ausgeschrieben, was nun nicht bedeutete – und hier kommen wir zu dem fatalsten Trugschluss, der noch heute das Komponieren irreführt – dass weniger diminuiert, improvisiert wurde. Im Gegenteil, die individuellen Gebilde Haydn’scher Sonaten z.B. der aus der Zeit der Empfindsamkeit, zeigen schon, wie, einem Abziehbild gleich, die Notenschrift die improvisierende, alle Übereinkünfte sprengende, Fantasie des musizierenden Komponisten einfing. Meine, natürlich nur durch wenige Berichte (Charles Burney’s “Tagebuch einer musikalischen Reise” ist einer davon) der damaligen Musizierpraxis belegbare Vermutung ist, dass die niedergeschriebene Fassung einer “Fantasie” eine mögliche, vielleicht die best mögliche, Version eines Stücks Musik des jeweiligen Schaffensmoments darstellt, nicht mehr und nicht weniger.

Die Hypostasierung trat, mehr oder weniger lange, nach dem Tod des jeweiligen Komponisten ein, da das Niedergeschriebene das einzige Dokument seines Schaffens bedeutete, zugleich aber den Moment der schiefen, nichtidentischen Koexistenz mit dem tatsächlich Gespielten vergessen machte. Diese verständliche Überbewertung des Geschriebenen entbehrt nicht des faden Beigeschmacks, wenn man weiß, zu welchen Spottpreisen Schubert manche Lieder seinen Verlegern verkaufte und welch unfassbarer Mehrwert mit einem einzigen dieser Lieder bis heute erwirtschaftet wurde. Trotzdem sind wir dankbar über manch wunderbare Musik, die uns auf diese oft anrüchige Weise vermittelt wurde.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei Schubert. Die Direktheit seiner Produktionsweise ist scheinbar für immer verloren. Der Freundeskreis, die überschaubare Umgebung für die er schrieb, machte zunehmend Platz einem Virtuosentum, das die Kluft von Produziertem und Reproduziertem anbahnte. Die Energie des Aufbruchs des Individuums wurde durch seine Initialkraft fortgerissen. Plötzlich hatte Musik nicht mehr nur mit Zuhören, sondern auch mit Bestaunen zu tun. Der Zirkus begann. Liszt’s Fingerfertigkeit zerbrach auch die Formen. Bald genügten auch die räumlichen Dimensionen nicht mehr. Das Gigantische bahnte sich an. Das Jahrhundert des Expressionismus brach auf. Brahms letzte Klavierstücke konnten daran zunächst nichts mehr ändern. Sie gemahnten jedoch vor der Jahrhundertwende nochmals an Bezüge jenseits der sich übertölpelnden Egos.

Nun schweißten sich dank der vergessenen Dialektik von Notentext und Musikpraxis zunehmend “persönliche” Lösungen in die Geschichte dieses Jahrhunderts ein. Manchmal gerieten diese persönlichen Lösungen, dank eines hervorragenden pädagogischen Talents, das sich mit dem kompositorischen zu paaren wusste, zu “Lösungen” schlechthin. Über Geschichte konnte nun ja dank der kanonischen Wirkung der Urtextausgaben verfügt werden. Die Musikwissenschaft legitimierte alles nur schriftlich verfügbare und nur dies, schaffte dadurch Häretiker, die mehr intuitive Methoden anwandten, die ebenso konsequent ignoriert wurden wie ehedem. Marius Schneider dürfte wohl ein solcher gewesen sein.(Bis heute hat noch keiner dieser ehrwürdigen Herren einen Nachruf zustande gebracht, geschweige denn, daß man sich um seinen Nachlaß kümmerte. Dies nur nebenbei.)

Nun wir Komponisten, die wir die Pflicht haben, in solchen Erwartungshaltungen unseren Beruf möglichst wenig entfremdet auszuüben, stehen vor der Aufgabe, das Versteinerte unseres Berufs aufzuheben. Der erste Schritt wäre die Hinterfragung des Egos und dessen rücksichtslosen Auslebens auf Kosten der Natur des Klangs. Nun schreckt mich gar nicht zurück, die Behauptung einerseits, wir lebten in einem Jahrhundert des Expressionismus und die Feststellung andererseits, dass alles, was “jung” und “wild” ist, “in” ist, als Vermarktung des Jahrhunderts bzw. Jahrfünfts abzutun. Dieses Jahrhundert hat soviel Schaden angerichtet, wieso gerade in der Musik nicht.

Der zweite Schritt wäre die Neuformulierung der Aufgabe des Komponisten als Materialvermittler und nicht Materialbeherrscher. Der dritte Schritt käme wie zu zeigen sein wird durch solch richtig verstanden neues Bewußtsein von selbst. Dieser Vorgang lässt schließlich wieder die vormalige Dialektik von Notenschrift und Aufführungspraxis zu, wenn auch motiviert andere Dringlichkeiten wie damals, als man über  diese Dialektik nicht derart nachdachte, sondern sie lebte. So zeigt mein abgeschlossener Werkzyklus “Lokale Musik”, dass mittels artifizieller Techniken der Notenschrift, Zustände evoziert werden können, die jenseits der notierten Musik stattfinden, ähnlich der Wittgenstein’schen Technik durch Sprache auf die Grenzen derselben hinzuweisen. Diese paradoxen Verfahrensweisen sind augenblicklich noch, das probateste Mittel, die anderen Zustände abzubauen. Auch kann ich mich als Komponist nur in kleinen Schritten an die Aufhebung der alten Denkweise machen, da sie wie gezeigt wurde, eminent mit dem Selbstverständnis des Komponisten verbunden ist, das  sich hier noch sträubt, voreilig Lösungsrezepte bekannt zu geben,  wo es noch danach sucht

John Cage hat durch seine Denkweise erreicht, daß durch Anhäufung vieler, sich widersprechender Egoismen, jedes einzelne Ego zum Mosaiksteinchen eines Ganzen wird. Er hat dem expressionistischen Zug ins Megalomane in der Tat entschärft und wieder eingegliedert in die Koexistenzmöglichkeit des Vieldeutigen. Sein Konzept der Offenheit, der Zurücknahme des Egos, der Hingabe an die Natur des Klangs ist die große Gegenkraft in diesem Jahrhundert, die den Versteinerungen entgegenwirkte, zunächst, indem es diese zermörserte. Dieser anarchistische Zug bei Cage ist für den Heilungsprozess einer jeden Kultur wichtig und die Phase des Zerstörens findet sich in allen großen Religionen, ob in der hinduistischen, in Shiva dem Gott der Zerstörung, oder der jüdischen, in Schebira dem Bruch der Gefäße, der der Restauration des Makels, Tikkum, vorausgeht.

Nun wundert es einen nicht, dass gerade aus dem Umkreis Cage’s Komponisten hervorgegangen sind, deren Arbeit sich dieser Restauration annehmen, namentlich sind zwei zu nennen: Morton Feldman und Christian Wolff.

Heinz Klaus Metzger erwähnte in einem kürzlich gehaltenan Vortrag über Anton Webern, dass einer der wenigen Komponisten, die an Webern heranreichen Morton Feldman wäre, da er über Webern hinaus gehe. Indertat transzendiert Feldman Weberns noch teleologische Naturschau, seine im komprimiertesten Ausdruck, aber eben im espressivo, zu findende urpflanzenhafte Reinheit. Feldman löst dies ein durch die Natur des Klangs selbst. Er tritt als Subjekt zurück, erscheint als Mittler und Bewahrer des freigelassenen Klangs. In Feldman’s Musik sind zunächst keine Dauern vorgeschrieben gewesen. Dies zu bestimmen war ganz der Feinfühligkeit des Interpreten überlassen. Ob seine später zunehmend notierte Musik den einmal freigelassenen Klang vor der mangelhaften Bereitschaft des Interpreten, mit dieser neugeschenkten Freiheit sinnvoll umzugehen, wieder bewahren wollte, müßte herauszufinden sein.

Bei Feldman fand Improvisation wieder Eingang in die Musik durch das freigelassene Eigenleben der Klänge selbst. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, wie landläufig leider Improvisation verstanden wird. Improvisation bei Feldman meint die Vorstellung eines objekthaften Klangs, den man durch angemessene Dauern in die Zeit projiziert und nicht durch subjektbezogene Rhythmen aus der Zeit herausmeißelt.

Wurde durch Feldman der Klang sich selbst zurückgegeben, hat Wolff den Klang wieder in die Gestaltungsfreiheit des Interpreten eingelassen. Durch sorgfältig erdachte Kommunikationsformen ist ihm gelungen, die Improvisation in die Komposition hereinzulassen ohne sich gleich wieder denn allerorts anzutreffenden, tobendem Nachholbedürfnis an frei improvisierter Musik preis zu geben. Auch die vielen voreiligen, weil noch krampfhaft dem alten Ego verpflichteten Lösungen der Aleatorik, geistern immer noch in Partituren junger Komponisten herum. Sie entpuppen sich als Alibis vermeintlicher Freiheit, wenn sie den sowieso geplagten Musiker auch noch abverlangen, ja kommandieren, in 7,5” zwischen zwei rigid komponierten Texturen gefälligst spontan zu improvisieren. Welch ein Hohn.

Für Christian Wolff dagegen wird die Natur des Klangs identisch mit der der Improvisation, bei mehr als einem Spieler auch identisch mit der Natur der Kommunikation. Seine Notenschrift widerspiegelt genau die neue Haltung. Ihr mangelt jegliche Rigidität, ist weich fließend, ja die “Balken” werden zu Bögen, den Impetus des musikalischen Flusses vorzeichnend. Die Schlüssel sperren die Noten nicht ein sondern auf zur Mehrdeutigkeit. Wolffs Stücke entwickelten sich von seziererisch genauen Kommunikationsspielen zur offenen Partitur, die endlich ermöglicht die einst aus-ein-ander-gesetzten Sphären wider in-ein-ander-zu-setzen.

So ist es logisch, daß sich Wolff zum politisch bewussten Komponisten entwickelte, der nicht wie manch andere, die neuen politischen Ideen mit den alten verbrauchten Mitteln ausdrückt, nicht weil es jenen um Verfremdung ginge, sondern, sie nicht bereit zu ende zu denken. Wolff denkt zu ende und erreicht die Ineinandersetzung von Idee und Material und so wieder die von Improvisation und Komposition.

So wundert es nicht, daß im Umkreis Christian Wolff’s ein Freundeskreis entstand -Aufhebung der Trauer um Schubert?- der wieder für eine überschaubare Umgebung komponierte, Gebilde die ähnliche Offenheit für Interpreten, ob Laie oder Fachmann, auszeichnet. Dies sind, um nur die wichtigsten zu nennen Cornelius Cardew, der bei einem Autounfall ums Leben gekommene Gründer des Scratch Orchestra, aus dem wiederum eine nicht unbedeutende, wenn auch unbekannte Gruppe englischer Komponisten hervorging, wie John White, Howard Skempton und Michael Parsons. Schließlich Frederic Rzewski dessen Symbiose von Virtuose und Komponist zu ganz anderen Lösungen als zu vermuten wäre, führte, der schließlich die Brücke schlug zu der, sich aus dem Jazz entwickelten, freien Musik. Rzewski spielt mit fabelhaften Musikern wie Steve Lacy, dessen improvisierte Musik wiederum solch Transparenz, Klarheit und Eigenständigkeit hat, wie vor Lacy vielleicht nur Thelonius Monk sie besaß.

Aus diesem Kreis von Musiker/Komponisten stammen auch, wen wundert’s, die neuen Diminuitionsbücher, von denen nur einige genannt und zur Lektüre empfohlen werden wollen:

Cornelius Cardew “Towards an Ethic of Improvisation”
in “Treatise Handbook”(Edition Peters)

Frederic Rzewski “The Poetics of Improvisation”
(Conservatoire Royal de Liège, rue Forgeur 14, 4 Liège, Belgien)

Leo Smith “Notes:8 Pieces” (5 Gretna St.,App.304, West Haven,
Conn. 06516, U.S.A.)

Derek Bailey “Improvisation. Its nature and practice in music”
(Moorland Publishing Co Ltd, 9-11 Station Street, Ashbourne, Derbyshire, England)

Es wurde skizziert wie die Trennung von Improvisation und Komposition, Resultat der Geschichte der “Zivilisation” des Berufs Komponist ist und es wurde versucht ein neues Verständnis für diesen Beruf zu gewinnen, der sonst nicht mehr geht, wie es allzuwahr Heinz Klaus Metzger am Schluss des erwähnten Vortrags über Webern formulierte:

“Eine neue musikalische Avantgarde kann erst entstehen, wenn die Komponisten endlich begreifen werden, dass sie selber nicht mehr gehen.”

 

This article first appeared in: Musica, 38. Jahrgang, Nummer 1, Januar/Februar 1984 (pages 11-13).

 

date:
11/04/2012

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